Heidrun Schwinger
Der Balkon
Alle waren noch da und ich hatte nicht vor, sie noch
ein Mal zu verlassen. Aber ich wollte doch noch mit meinem Spielleiter
sprechen. Ich beschloss, ihn beim nächsten Mal wieder aufzuhalten.
Es tat gut, neben meiner Mutter zu sitzen. Aber ich hatte ein schlechtes
Gewissen. Ich würde es ihr sagen müssen. So wie ich ihr immer
alles sagen musste. Früher oder später.
Jetzt war er wieder da. Diesmal schien er auf mich zu warten. "Bist
du gesprungen?" Ich nickte. Er wusste es schon. "Dann musst
du es wieder tun. Wieder und immer wieder
" Ich wusste es.
"Werde ich dann auch verblassen?" Er schüttelte den Kopf.
"Du nicht, aber
" und er schaute in meine Ecke des Balkons,
in der er nichts sehen konnte. Mein Vater! Die anderen, meine Mutter,
es war nicht die Abenddämmerung, die ihre Konturen verschwimmen
ließ. Es war ich! Ich schaute in die leere Ecke - in seine Ecke
des Balkons - und musste nicht fragen, ob seine Erinnerung ebenfalls
verblasste. Er nickte leicht, wandte sich ab und - kurz bevor er sprang,
zögerte er noch ein Mal. Es kostete ihn einige Überwindung,
den Sprung so lange hinauszuzögern, und auch ich spürte das
Verlangen zu Fallen. "Wenn du Glück hast, wachst du auf, bevor
sie ganz weg sind. Ich versuche es immer wieder
" Die Hoffnung
in seiner Stimme hatte etwas Künstliches. Es war meine Erinnerung,
mein Leben, um das es hier ging. Mein kleiner Tod. Noch einmal setzte
ich mich zu meiner Mutter. "Ich werde aufwachen", versprach
ich ihr, verlor mich noch ein Mal in dem ewigen Vertrauen ihrer Augen
- und sprang.
© heidrun schwinger