Heidrun Schwinger
Der Balkon

Diesmal spürte ich auch den Fall. Dann den Aufprall. Weniger schmerzhaft, aber dennoch nicht wirklich angenehm. Wieder musste ich eine Weile warten, bevor ich aufstehen konnte. Aber ich hatte es eilig. Da mussten doch irgendwo Leute sein, die man fragen konnte? "Hallo?", natürlich keine Antwort. Vielleicht auf der Parkbank? Auf der nächsten? Tatsächlich: "Was geht hier vor?" Ich hatte ein Paar erwischt. Er musterte mich gleichgültig, sichtlich ungehalten, dass ich sie ansprach. Sie fragte mit nicht viel mehr Interesse: "Bist du gesprungen?" Ich nickte. "Selbst schuld." Sie zuckte mit den Achseln und wandte sich wieder ihrem Partner zu. Langsam und unmissverständlich setzten sie ihren Spaziergang fort.
Der Balkon! Ich musste meinen Spielleiter finden. Ich wusste, dass er es war. Wieder durch das Haus, wieder keine Zeit für Einzelheiten. Meine Eltern - ob sie noch spielten? Meine Mutter saß nicht mehr am Tisch! War ich zu spät? Dafür war jetzt Platz in der Runde. Der Spielleiter musste warten. Ich zögerte. Würden sie mich bemerken? Würden sie wissen, dass ich gesprungen war? War ich transparent? Ich blickte an mir hinunter, aber mir viel nichts auf, das mich verraten konnte. Dann näherte ich mich dem Tisch.
Niemand grüßte mich, aber einige sahen mich an und lächelten. Dann wandten sie sich wieder ihrem Spiel zu. "Willst du etwas trinken?", fragte mich jemand. "Willst du mitspielen?", fragte meine Mutter. Ich schüttelte den Kopf. Sie war wieder da mit einer neuen Flasche Wein und einem Mineralwasser. Sie war wieder da. Wir rückten ein wenig zusammen und ich hatte ausreichend Platz. Meine Mutter sah mich besorgt an, sagte aber nichts. Ich beobachtete das Spiel, hörte den Gesprächen zu, unfähig mich daran zu beteiligen aber glücklich, dabei zu sein. Dann musste ich mich unwillkürlich zur Brüstung drehen. Er sprang schon wieder.


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© heidrun schwinger

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