Heidrun Schwinger
Der Balkon
Die Sonne war wohl gerade dabei unterzugehen, denn
sie leuchtete aus dem westlichsten Wipfel des großen Nussbaumes
vage auf den parkähnlichen Garten unter mir. Die Brüstung
war viel zu nieder für einen Balkon und einladend breit, um darauf
Platz zu nehmen, was streng verboten war, hatte mein Vater gesagt.
Seine Stimme klang eigentümlich vertraut in meinem Ohr. Gerade
lachte er laut auf und kurz darauf stimmte folgerichtig das Gelächter
einer kleinen Gesellschaft mit ein. Mein Vater hatte das ansteckendste
Lachen, das ich kannte. Deshalb konnte man auch keinen seiner Witze
weitererzählen. Ohne sein herzhaftes Lachen waren sie einfach nicht
mehr witzig.
Neugierig schaute ich links zu der alten kleinen Eckbank, die sich standhaft
über die Jahrzehnte um wechselnde Generationen von Tischen rankte.
Diesmal war es der schwere Eichentisch aus der Bauernstube meiner Großmutter.
Tiefe Kerben zeugten vom Handwerk des Großvaters, der das Messer
während der Arbeit nicht bloß beiseite gelegt, sonder einfach
in den Tisch gerammt hatte. Eine sichere und selbstverständliche
Handbewegung. Die Kanten waren rund vom abendlichen Tarockieren, denn
die Großmutter und der Onkel hatten die Karten stets ganz nah
am Körper über den Tisch gezogen.
Jetzt sah ich auch meine Mutter und den Vater, beide gemeinsam, dazu
die engsten Freunde, ein fröhliches Paar inmitten ihrer Gäste.
Die Würfel rollten über das Pokerbrett, große Bierkrüge
und schwere Weingläser, dazwischen Aschenbecher und kleine Rauchschwaden
ergänzten das abendliche Idyll.
Ich überlegte gerade, ob ich mich dazusetzen sollte und wo denn
noch Platz war -möglichst in der Nähe meiner Mutter, als eine
Gestalt an mir vorbei huschte. Sie schien die Gesellschaft gar nicht
wahrzunehmen und wurde auch sonst von niemandem bemerkt. Sie blickte
in jene Ecke des Balkons, die wohl eher von der Morgensonne begünstigt
war und daher von meiner Familie weniger genutzt wurde, stieg dann auf
die Brüstung - und sprang.
© heidrun schwinger